Gerd Hergen Lübben
PETZOWER ENGEL-ADVENT
Vernissage-Rede anlässlich der Ausstellung » ENGEL'LICHT'FARBEN'SCHEIN – Malerei und Objekte von HANNE-MARTJE MÜNTHER « am 21. September 2002 in der Schinkel-Kirche zu Petzow. (Manuskript)
Schinkel-Detail
Das Meer unter die Kirche und den Himmel über die Kirche gemalt. Damit scheint Karl Friedrich Schinkel seiner in Berlin, Staatliche Museen, gezeigten Ansicht des Doms von Pirano einen, noch mit starkem Licht gesteigerten, heiligen Ton zu geben. Eingetaucht in Landschaft mit den das Licht flektierenden Elementen Wasser und Luft, dominiert das Bauwerk die Natur. Schinkel-Kirche. Hier dieses, so zu sagen im Kleinen, als Gotteshaus geplante, nun unter Schutz gestellte Baukunstwerk ist heute, wie mit dem Namen eines Erzengels, verbunden mit jenem von Preussens früheren obersten Baumeister und Stadtplaner, der Relief-Fittiche antiker Siegesgottheiten in Ideal-Landschaften ragen liess, und der auch als Bühnenbildner erfolgreich war. – Schinkel schuf Bühnenbilder für E. T. A. Hoffmanns Oper Undine. Hoffmann schuf Bühnenbilder für Kleists Käthchen von Heilbronn, Kleist hatte fürs Käthchen einen Traum vom Cherub geschaffen, mit Flügeln, weiss wie Schnee, auf beiden Schultern. Dieser wiederum wird durch eine neuerdings in Neukölln aufgeführte Kammeroper, Die Nacht des Cherub, in Erinnerung gerufen, um den Dichter in seiner Todesnacht noch einmal mit Geschichten und Figuren aus seinem Leben zu konfrontieren.
Auf einen von Schinkel entworfenen Turm gestiegen, schweifen unsere Blicke aus, sie heben ab auf Himmel und Horizont, verweilen da und dort, und wir holen sie endlich und glücklich zurück, und die blicklings eingefangene Weite vermischt sich noch in Gedanken mit der Enge des gewundenen Abstiegs in Wirklichkeit. Blick-Umschweife, Gedanken-Ausflug. Anschwebende Ladungen ums Installationsgestell. Nach Türmen hin auch richten sich Blicke, orientieren sich Suchende. In der Baukunst müsse, wie in jeder Kunst, Leben sichtbar werden, postuliert Schinkel, das Werk müsse nicht dastehen als etwas Abgeschlossenes, sondern als Imaginationen Fortgestaltendes. Hermetisch Verschlossenes also, dem reisigen Götterboten nacheilend, hermeneutisch erschliessen. Gefolgt von den Blicken der beiden Viktorien vor dem Charlottenburger Schinkel-Pavillon des Schadow-Schülers Rauch, in Gedanken auch von dessen himmelwärts winkendem Engel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, vom Flügelross Pegasos überm Triumphzug des Dionysos im Giebelfeld des Schinkelschen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt wie von der Quadriga-Lenkerin – swing low, sweet chariot – und der gülden-beleibten Siegessäulenheiligen, die, entfernt nur an die kopflose Louvre-Nike von Samothrake erinnernd, Gewinnen nachjagt und aussieht, als ob sie Emily heisse, wie die Rolls-Royce-Kühler-Lady, steigen wir hinab, um den in enge Tiefe verbannten, flügelfreien Frieden ans Licht zu bringen, dem Geheimnis der Engel nachspürend mit Else Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel vor der Pforte hat, ich trage seinen grossen Flügel, gebrochen schwer am Schulterblatt. You look like an angel.

Dädalus, bildender Künstler und Ingenieur, konstruierte, um der minoischen Gefangenschaft zu entfliehen, Flügel für sich und seinen Sohn Ikarus. Mit dem Flug der beiden haben sich immer wieder Erfinder wie Künstler auseinandergesetzt, mit dem gescheiterten Höhenflug des Jungen wie auch mit der gelungenen Flucht dann des trauernden Vaters. Ein Gemälde von Landon zeigt, wie Dädalus, noch auf dem Turm stehend, seinen Sohn fest zu halten versucht, der bereits waghalsig auffliegt. Der Gestus des Festhalten-Wollens gleicht dabei dem des Loslassen-Müssens sowie jenem eines Anschub-Schubses. Andere Darstellungen zeigen das Jammerbild des Absturzes, die von der Sonne skelettierten Fittiche, etwa in Pompeji, oder Pieter Breughels d. Ä. Bild einer Landschaft mit dem Fall des Ikarus, von Fischern und Bauern bei ihrer Arbeit unbeachtet. – Wie nun. Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendwas Anderes soll uns doch trennen von der Liebe, verkündete Paulus. Hebt ab, um und um, schwärmt aus. Durch Raum und Zeit, in Bild und Ton, Wort und Gedanken. Frei. Fliegt auf. 
Also: Vom Himmel hoch. Auf die Tür zum Paradeis. Kommt, pfeift und trombt. Himmlische Heere. Der Engelein Chor. Die Himmel rühmen. Stimmt freudig mit ein. Und wirklich, Erzengel erheben, solo und in Terzetten, ihre Stimmen in Haydns Schöpfung zu Miltons Paradise Lost. Oder nehmt, in Bachs h-Moll-Messe, das Flüstern, Verstummen und Stillehalten im Angesicht des Heiligen sinnlich wahr. Oder in Beethovens Missa solemnis den Oktavensprungsturz in tiefe Stille. Auch wie zu Artur Honeggers Oratorienklang das Schwert des Erzengels der Jeanne d‘Arc auf den Namen Liebe getauft wird. Und Derungs-Töne eines Bukowski-Engels mit abgesägten Memling-DetailFlügeln. Feuerengel, eine Rammstein-Ableger-Band, macht mit pyrotechnischen Effekten Furore.  Ja, nein. Es sungen drei Engel einen süssen Gesang, mit Freuden es selig in den Himmel klang — wie Humperdincks Abends will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn, ein Knabenwunderhorn-Text —, ertönt Armer Kinder Bettlerlied als Cantus firmus in Hindemiths Mathis-Musiken wie, zuvor, in der Dritten Symphonie von Gustav Mahler, der in seiner Achten, der Symphonie der Tausend, den Engel-Chören aus Goethes Faust jenen in höheren Sphären nötigen schwebenden Sang und Klang verleiht. Oder der Engelstimmen-Fernchor in Puccinis Schwester-Angelica. Und alle die Sound-Tracks filmischer Angelophanien. Comin‘ for to carry me home.

Unterm Gewölbe des Güstrower Doms hängt, flügellos wie der aristophaneisch verstossene Friede, der bronzene Schwebende. Anderenorts, auf dem Rücken eines nicht getöteten, doch bezwungenen Wolfes steht, mit ruhig gestellten Flügeln, der Geistkämpfer. Barlach-Engel machen Schauen wahrnehmbar, wahrhaftig. Hinter glücklosem Engel sieht Heiner Müller Vergangenheit anschwemmen, Geröll auf Flügel und Schultern schütten. Gottfried Benn erblickt seinen Ikarus: Stillflügelnd über Fluch und Gram des Werdens und Geschehns mein Auge, schmilz hin den Trug der Farben in das Rauschen gebäumter Sonnen. – Weist Paul Klee den jungen Engel der Geschichte mit weit gespreizten Flügeln aus, in denen sich der vom Paradies her wehende Sturm zu verfangen scheint, und mit aufgerissenen Augen – diesem Angelus Novus hat übrigens Claus-Steffen Mahnkopf in seinem Versuch eines polymorphen Musiktheaters der Zumutung polyphon eine Angela Nova einverleibt –, fixiert Max Ernst den Sturz eines Engels durch Schatten werfende Leere, Sumpfengel zudem, Haus- und Würg-Engel. Er stösst gegen Türen, stösst gegen die Bäume, beschreibt Rafael Alberti in Gedichten Sobre los ángeles den Engel, ohne Augen, ohne Stimme, ohne Schatten: Sin ojos, sin voz, sin sombra. Unsichtbar für die Welt, für jeden.
Wurde Nathan der Weise doch auf Flügeln unsichtbarer Engel vor Wasserfluten gerettet, so wollte seine Tochter erst recht von einem sichtbaren auf weissem Fittich heil durchs Feuer getragen worden sein. Den Sitz der Engelwesen, wirft mein Vernunft-Engel Kant ein, stellt man sich gerne im Himmel vor, hoch im unermesslich gestirnten Weltraum, ohne mit zu denken, dass unsre Erde, aus jenen Gegenden gesehen, auch als einer von den Sternen des Himmels erscheine, und dass die Bewohner anderer Welten mit eben so gutem Grunde nach uns hin zeigen könnten und sagen: Sehet da den Wohnplatz ewiger Freuden, zubereitet, uns dereinst zu empfangen, ganz anders als sich unsere Erdenwelt, den Aufenthalt für Menschen, vorzustellen etwa als ein Wirtshaus, als ein Zuchthaus, als ein Tollhaus oder endlich als ein Kloak, wo aller Unrat aus anderen Welten hingebannt worden sei, wozu Kant im Ende aller Dinge eine skurrile Lesefrucht kredenzt, nach welcher ein Engel die Erde als Abtritt für das ganze Universum ausersehen hat. Eine wunderliche Vorstellung verbinde überdies den Flug der Hoffnung mit dem Begriffe des Steigens, ohne mit zu begreifen, dass, so hoch man auch gestiegen ist, man doch wieder hinab müsse, um allenfalls in einer andern Welt festen Fuss zu fassen. Die Bibel lässt Jakob einmal ringen mit einem Engel, ein andermal eine Treppe sehen, die auf der Erde steht und bis zum Himmel reicht, und auf der Engel auf und nieder steigen bis in alle Ewigkeit. Wie in Eschers Anderwelt endloser Treppauf-Treppab-Relativitäten.
Engel, Kundschafter und Botschafter zugleich, sprechen zum Menschen in Stunden seiner Verzweiflung, seiner Haltlosigkeit, seiner Suche nach Sinn, seines Empfindens, am Ende zu sein. In seiner Angst es nicht auszuhalten, nur Mensch zu sein, ersehnt er Schutz und Hilfe durch Engel. Bekannt ist der im Buch Daniel überlieferte Lobgesang derer, die durch Jahwes Engel aus dem Feuer des Ofens gerettet wurden, aus einem glühenden Petzow gleichsam, dessen Name ja vom altpolabischen Wort Petsch für Ofen hergeleitet wird. Die Existenz der Engel, die bezweifelte ich nie, Lichtgestalten ohne Mängel, hier auf Erden wandeln sie. Nur, so der Ironiker Heinrich Heine, die Flügel sprech ich jedem Wesen ab. Engel gibt es ohne Flügel, wie ich selbst gesehen hab. Freilich, Dädalus-Ikarus-gleich, schuf Heines Kunst Flügel für unsere Phantasie. You walk like an angel. Die Menschen sind Engel und leben im Himmel: Eine Dada-Hausmann-Collage.

Dreihundert Jahre, bevor Dante seine Göttliche Komödie samt ihrer Engelgewaltenteilung in Terzinen giesst, berichtet der muslimische Dichter al-Ma'arrî von einem zu Lebzeiten Blinden, dem im Jenseits klarsichtige Augen in den Kopf gesetzt werden, damit er die anderweltliche Wirklichkeit zu sehen vermag, aber als er sie davor schliesst, reisst der Gerichtsengel sie ihm mit Feuerhaken wieder auf. – Beckmann-DetailBegleitet von Posaune blasenden Engeln – einen davon schickt später Max Beckmann in einem Bild von Tod und Geburt mit dem Kopf nach unten an der Zimmerdecke spazieren – und angetan mit Panzerkluft, massakriert Jan Memlings Erzengel Michael die entblösst vor ihm knieenden und kriechenden Menschen. Aus einem zwischen an die Wand gemalten Kampfengeln geöffneten Fenster des Wirtshauses Sinte Michiel lässt Jan Breughel d.J. Gäste Ausschau halten nach der Ankunft, womöglich, von Engeln in Wirklichkeit, denn die können doch beliebig verkleidet und von unberechenbarer Gestalt sein, ausgucken also nach dem Einzug des Unsichtbaren ins Sichtbare, des Unvorstellbaren ins Anschauliche, des Scheinbaren ins Unscheinbare. Bote der Geliebten, Gesandte vom Stern der Ungeborenen, schau heimwärts.
What did I see. Das Engelkonzert des Malers Mathis seht, und ein Engel-Scherzo von Dürer, dessen Melancolie mit gleichsam hängenden Flügeln aus einer Art Rumpelkammer lugt und dessen Grosses Glück, beflügelt lächelnd, über den Erdball hin schwebt, high. Swing low. Durch Finsternis tragen Engel auf ihren Federn – in Gerhart Hauptmanns Himmelfahrt-Stück – der halluzinierenden Hannele das Scheinen der Heimat und das Blitzen der Ewigkeit zu, Seligkeit ohne Ziffernblatt. Comin‘ for to carry me home. Geflügelte Engelköpfe, Barock-Putten, gesichtet auch die Sixtina-Engelchen des Raffaelo Santi zwischen Lenden und Eisbein, Fleischerfachgeschäft oder Puff. A band of angels comin‘ after me. Noch und noch Schutzengel, mit und ohne Fittich. Bildwerke nach dem Buch vom Jungen Tobias, den der Erzengel Raphael begleitet, und dessen Vater dieser von Blindheit heilt. Als Jahwes Engel den abschüssigen Weg versperrt, auf dem sich der Mann Bileam befindet und dieser den Engel nicht sieht, aber seine Eselin stehen bleibt, flucht Bileam über das Tier, das zu sprechen beginnt und sagt, warum es stehen bleibt. Da öffnen sich dem Bileam die Augen, er sieht den Engel und wird vor Unglück bewahrt.
Im Zürcher Hauptbahnhof schwebt über den Reisenden ein Engel von Niki de Saint Phalle, die Schutzengelin, dem Feuervogel im Pariser Strawinsky-Brunnen ähnelnd, mit locker gelöcherten Schwingen. Kein Widerstand gegen Luft und Wasser, die flektierenden Elemente. Ikarus‘ volatile Wollust am Tod. Dädalus‘ Élan vital. Ein Engel aus den Wünschen der Liebe erbaut, so Nelly Sachs, stirbt und aufersteht in den Buchstaben in denen ich reise. – Achtfach beflügelter Reisiger Hermes, komm, Business- und Baseball-Angel, all your seed ist love, rostiger Hartlepool Steel Angel of the North, Spannweite Jumbojet, Kamikaze-Zeitgeist, Weltgeist-Robot, Rotes Flugzeug über Dangast oder Laboe, Boten für Orphée in Schwarzlederkluft, Totenkopf-Gang mit Helm und Flügeln, Hell's Angels, hey, Jimmy Angel's Fall in den Cañon del Diablo, Luzifer, verstossener Sachwalter menschlicher Schwächen, schaust im Sturzflug noch in die Höhe, immer nach dem Denunziator, je tiefer du sinkst, um so entsetzlicher dein Blick, so dass jener Widersacher aller Schwächen, den er trifft, erbleicht und, wie Heine bezeugt, niemals wieder Röte in seine Wangen tritt, und der seitdem Engel des Todes heisst, raus aus dem himmlischen Jerusalem, aus Sezuan, Bangkok, Los Angeles, aus den Gärten und Städten der Engel, Heaven in Germany, raus, vorbei an Rosinenbomber, Hungerkralle, Motorraddenkmal, kommt, weisse Engel, gelbe, blaue, grüne, allerlanden Geistkämpfer und Sendboten. Ihr Schreibe-Engel auch, werft nicht die Bücher des Lebens in den Feuersee. Seid, wie Baudelaire und Rimbaud, vielflügelig Tanzende auf Seilen, die von Turm zu Turm gespannt sind, Seraphim auf Girlanden von Fenster zu Fenster, Cherubim auf Goldketten von Stern zu Stern. You talk like an angel.

Der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer lässt, in seinen Tanz-Skizzen, nach dem Dionysischen – but I got wise – mit seinen aufreizenden, gelb-orangen Farben und Masken von oben ein Gewebe kommen, das die Tanzenden einhüllt und nach und nach heller wird, die Stimmung sich steigern von Rot zu Orange, Musik und Tanz erregen, Taumel, das Orange changiert bis zum Zitronengelb als Symbol des Ekstatischen,Münther-Detail und dann – you’re the devil in disguise –, gleichsam Augenblicks-Absturz in Nacht, schwarzer Hintergrund, die Tanzenden grau verhüllt, die Musik tief. In Hintergrund-Mitte ein violetter Punkt, der zum Kreis wird, dieser dann zum blauen Quadrat. Musik klar, bis Blau, tiefes, reines Blau herrscht. Der Cherub, in unbestimmten Umrissen, erscheint, Dunkelblau geht in Hellblau, immer heller, bis in reines Weiss über. Die Tanzenden sind vereinigt, geführt von dem Cherub – –
ENGEL'LICHT'FARBEN'SCHEIN – Malerei und Objekte.
Vernissage am 21. September 2002 in der Schinkel-Kirche zu Petzow. 
HANNE-MARTJE MÜNTHER: 1940 geboren in Dessau, Bauhaus-Stadt; lebt und arbeitet heute in Berlin; 1960–70 Studium Textildesign in Kiel, Kunsterziehung in Mannheim, Freie Kunst in Kassel, documenta-Stadt; 1971-77 Familiengründung, drei Kinder; seit 1975 vielerorts Ausstellungen; Mitgliedschaft u.a. im Forum Künstlerinnen. – Umgetrieben von schöpferischer Anschauung der Welt, zu mitgestaltendem Schauen anstiftend und kreative Begegnung herausfordernd: In den Domizilien der Münthers, in Wuppertal, wo der Farben-Erzengel Schlemmer Zuflucht fand vor den Nazis, in der Dörenhagener Deele dann, präsentierten KünstlerInnen kollegial einander aktuelle Konzepte, Objekte und Projekte; mit beschwingenden Bühnenbildern hat sie Aufführungen eines Marionetten- und Figurentheaters ausgestattet, und in ihren Keramiken scheinen des Meeres- und der Liebe Wellen gebändigt. Bewegt sein und bewegen. Zu sehen um zu zeigen um zu schauen um zu erkennen um zu verstehen – –
Halt an, wo laufstu hin, der Himmel ist in dir, ruft der Cherubinische Wandersmann. Die Scholasten hatten die Wirklichkeit arg unterschätzt, behauptend, es könnten nur dreihunderttausend Engel auf einer Nadelspitze tanzen. Solche Engel-Balancen fanden Spott bei Luther und Marx, beim Görlitzer Böhme auch, der, ebenso gegen Bilanz-Gaukelei und Finanzwucher wetternd, über die Tafel-Freuden der Himmlischen ins Grübeln kam: Was nützt einem Engel sein Corpus, wenn ihn der Obere nicht speisete, er hätte keine Bewegung und läge wie ein tot Holz. Auf die Pixel-Spitze getrieben, Platz genug nicht einmal im digitalisierten Global-Village fände die Unzahl der Engel, Moroni, Uriel, Michael, Dschibril und wie sie alle heissen. Wo bleiben sie alle. Den Himmel überlassen wir, frei mit Heine, den Engeln und Spatzen, und wachsen uns Flügel nach dem Tod, so wollen wir euch besuchen. Und wie, angesichts Majakowskis schneeweiss beflügelter Empörung – – Dort oben. Geflohn, alle Mann: Jehova und Zebaoth, Buddha und Allah. Nein, nein doch. Wenn die Engel ihre Flügel breiten, so scheint es anderen Künstlern, etwa Rilke, ist’s, als ginge Gott mit seinen weiten Bildhauerhänden durch die Seiten im dunklen Buch des Anbeginns. Und: Wir Ungeübten, die in den Nächten nichts lernen, notiert Nelly Sachs: Niemand sähe die Engel. Invisible para el mundo, para nadie.
Und doch, wohin Sie sehen: Aus Bruch Versuche, Sinnen-Tänze. – Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, vielmehr, mit Paul Klee gesprochen: Kunst macht sichtbar. Schafft Raum für Imaginationen. Nehmen wir also die bildnerische Einladung zu unabhängiger Suche an, à la Henri Rousseau, dessen, von unserer Münther zitierter, Freiheitsengel mit der Posaune im hellblauen Himmel schwebt. Finden wir Spuren in Hanne-Martje Münthers Farben, Fittich-Strukturen in ihrer dädalischen Werkstatt im Schinkel-Kontext.Daidalos/Ikaros Neue Flügel für Ikarus. Ikarus – Phantastikon guten Mutes. Ikarus – Installation weiter führenden Schauens. Ikarus – Anflug des Friedens auf Erden. Flügel mithin für den synergetischen Impuls-Engel in uns, dem wir zurufen müssen: Wehre und rede du darein, `s ist leider Krieg – und ich begehre Nicht schuld daran zu sein. Sehen wird hier zum Wagnis, aus ikarischer Bestürzung, zu Fahrt und Flug, Schwingen-Schwung ins angelische Freie. – Rousseau-DetailJa, sag ich, wie der Engel durch das Grautier den Bileam zum Durchschauen der LICHT-FARBEN-SCHEIN-Wirklichkeit brachte, so spricht, in unserer Lebtag-Wirklichkeit, Hanne-Martje Münthers Kunst uns an, und erhebt Anspruch auf uns Feuertrunkene.  Beflügelnde Sprache der Bilder. – Glück auf. Sweet chariot. Auf Augen, Augen auf. Das Fürchten zu lernen. – Geflügeltes Wort. Fürchtet euch nicht. – Danke.

© Gerd Hergen Lübben

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